Mittwoch, 12. Juni 2024

BGH: Unwirksamkeit von Klauseln über die Überschussbeteiligung des Versicherungsnehmers in Bedingungen zur Berufsunfähigkeitsversicherung (sog. Telematiktarif)

Pressemitteilung Nr. 130/2024 vom 12.06.2024

Urteil vom 12. Juni 2024 - IV ZR 437/22

Der unter anderem für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass von einem Versicherer in seinen Bedingungen zur Berufsunfähigkeitsversicherung verwendete Klauseln über die Überschussbeteiligung in Zusammenhang mit sog. Telematiktarifen unwirksam sind.

Sachverhalt und Prozessverlauf:

Der Kläger ist ein gemeinnütziger Verbraucherschutzverband. Die Beklagte ist eine Versicherungsgesellschaft.

Die Versicherung in einem von der Beklagten angebotenen Berufsunfähigkeitstarif setzt die Teilnahme der versicherten Person an einem sogenannten "Vitality Programm" voraus. Die Teilnehmer des Programms können durch bestimmte Verhaltensweisen, insbesondere sportliche Aktivitäten oder durch Arztbesuche, Punkte ansammeln. Abhängig von der Zahl der gesammelten Punkte werden die Teilnehmer in einen sogenannten "Vitality Status" eingestuft, der entweder "Bronze", "Silber", "Gold" oder "Platin" sein kann.

Das von der Beklagten gegenüber den Versicherungsnehmern verwendete Klauselwerk enthält in diesem Zusammenhang auszugsweise die folgenden Regelungen:

"§ 20 Wie sind Sie an unseren Überschüssen beteiligt?
(...)

(4) Gesundheitsbewusstes Verhalten

Berücksichtigung des sonstigen gesundheitsbewussten Verhaltens im Rahmen der Überschussbeteiligung

(…)

[UAbs. 2] Die nach den in den Absätzen (1) bis (3) genannten Grundsätzen ermittelten Überschussanteile werden in einer zweiten Stufe auf der Grundlage des sonstigen gesundheitsbewussten Verhaltens der versicherten Person weiter modifiziert.

[UAbs. 3] Zur Bemessung des sonstigen gesundheitsbewussten Verhaltens dient derzeit der … Vitality Status der versicherten Person im … Vitality Programm (…)
(…)

[UAbs. 6] Sofern wir keine termingerechte Information über das sonstige gesundheitsbewusste Verhalten erhalten, weil z.B. das … Vitality Programm gekündigt wurde oder der Übermittlung des … Vitality Status widersprochen wurde, wird Ihr Vertrag hinsichtlich dieser Überschüsse für die betroffenen Versicherungsjahre so behandelt, als hätte die versicherte Person sich nicht sonstig gesundheitsbewusst verhalten.
(…)

[UAbs. 8] Die Überschussanteile Ihrer Versicherung können steigen, wenn die versicherte Person durch sonstiges gesundheitsbewusstes Verhalten einen entsprechenden … Vitality Status erreicht, wodurch der Nettobeitrag sinken kann. Umgekehrt können die Überschussanteile Ihrer Versicherung aber auch sinken, wenn die versicherte Person sich weniger sonstig gesundheitsbewusst verhält und einen diesem Verhalten entsprechenden … Vitality Status erhält, wodurch der Nettobeitrag steigen kann. Der Nettobeitrag ergibt sich aus dem um die Überschussanteile reduzierten Betrag. Einzelheiten hierzu, insbesondere zu den von dem … Vitality Status abhängigen jährlichen Zu- oder Abnahmen Ihres Nettobeitrages, sowie zu den in jedem Versicherungsjahr geltenden Grenzwerten und Bezugsgrößen finden Sie in unserem jährlichen Geschäftsbericht; diese Werte werden jährlich im Rahmen der Überschussdeklaration neu festgesetzt.
(…)"

Der Kläger hält die in den Unterabsätzen 6 und 8 enthaltenen Klauseln wegen Intransparenz und unangemessener Benachteiligung des Versicherungsnehmers für unwirksam. Er begehrt mit seiner Klage, der Beklagten bei Meidung von Ordnungsmitteln aufzugeben, es zu unterlassen, diese Klauseln zu verwenden.

Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des beklagten Versicherers zurückgewiesen. Die beiden vom Kläger angegriffenen Teilklauseln halten einer Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB nicht stand.

Die Klausel in § 20 Abs. 4 Unterabsatz 8 der Versicherungsbedingungen ist wegen Intransparenz (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) unwirksam. Dem Versicherungsnehmer wird durch die Klausel nicht hinreichend verdeutlicht, nach welchen Maßstäben die in § 20 Abs. 4 Unterabsatz 2 vorgesehene weitere Modifizierung seiner Überschussbeteiligung (und damit mittelbar die Höhe der von ihm zu leistenden Versicherungsprämie) vorgenommen wird. Für nicht ausreichend erachtet der Senat dabei den Verweis in § 20 Abs. 4 Unterabsatz 8 auf den Geschäftsbericht des Versicherers, weil auch dort keine abstrakten Regelungen zur Modifikation der Überschussbeteiligung enthalten sind. Aus demselben Grund wird die Transparenz der Klausel auch nicht durch den Versicherungsnehmern übermittelte Informationsschreiben hergestellt.

Die Klausel in § 20 Abs. 4 Unterabsatz 6 ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofs unwirksam, weil sie den Versicherungsnehmer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB). Eine Auslegung der Klausel ergibt, dass zu Lasten des Versicherungsnehmers für jeden Fall des Ausbleibens einer Mitteilung über sein sonstiges gesundheitsbewusstes Verhalten unterstellt wird, es habe ein solches Verhalten nicht gegeben. Dies benachteiligt den Versicherungsnehmer deshalb unangemessen, weil ihm hiermit das Risiko einer ausbleibenden Übermittlung auch für den Fall aufgebürdet wird, dass die Beklagte, ein Dritter oder niemand das Ausbleiben der Übermittlung des sonstigen gesundheitsbewussten Verhaltens zu vertreten hat.

Vorinstanzen:

Landgericht München I - Urteil vom 28. Januar 2021 - 12 O 8721/20
Oberlandesgericht München - Urteil vom 31. März 2022 - 29 U 620/21

Die maßgebliche Vorschrift lautet:

§ 307 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

(1) 1Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. 2Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.
(…)

Karlsruhe, den 12. Juni 2024

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe

Dienstag, 11. Juni 2024

BGH: Verhandlungstermin am 18. September 2024, 9.00 Uhr, in der Sache IV ZR 436/22 (Wirksamkeit von Regelungen zur Beteiligung des Versicherungsnehmers an Überschüssen einer Rentenversicherung)

Pressemitteilung Nr. 128/2024 vom 11.06.2024

Der unter anderem für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs wird am 18. September 2024 über Fragen der Überschussbeteiligung in einer Rentenversicherung verhandeln. Zudem streiten die Parteien über die Wirksamkeit diverser Regelungen in den vom Versicherer verwendeten Allgemeinen Versicherungsbedingungen, Produktinformationsblättern und Versicherungsinformationen.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:


Der Kläger, ein in die Liste der qualifizierten Einrichtungen gemäß § 4 UKlaG eingetragener Verein, und der beklagte Versicherer streiten über die Ausgestaltung und Abwicklung von Rentenversicherungsverträgen in einem von der Beklagten angebotenen Tarif. Der Kläger wendet sich insbesondere gegen die von der Beklagten in diesem Tarif praktizierte Überschussbeteiligung. In ihr sieht er einen Verstoß gegen die Vorgaben von § 6 Abs. 1 Satz 1 Mindestzuführungsverordnung (MindZV). Hintergrund ist, dass die Beklagte Versicherungsnehmern in dem Tarif eine höhere Überschussbeteiligung zuteilt als jenen, die zwischen Juli 1994 und Dezember 2016 in anderen Tarifen eine Rentenversicherung mit einem höheren Rechnungszins abgeschlossen haben.

Der Kläger macht geltend, aus § 6 MindZV ergebe sich die Verpflichtung der Beklagten, die für die Bedienung der einzelnen Verträge mit den jeweils vereinbarten rechnungsmäßigen Zinsen benötigten Kapitalerträge vorab von den insgesamt erzielten Kapitalerträgen abzuziehen und nur den verbleibenden Teil als Überschuss zu verwenden. Zudem sieht er den aufsichtsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 138 Abs. 2 VAG) durch die Praxis verletzt, bei der jährlichen Zuweisung der Überschüsse auf die überschussberechtigten Verträge den Versicherungsverträgen mit einem höheren Rechnungszins eine in Prozent ihres Deckungskapitals geringere Überschussbeteiligung zuzuteilen als den Verträgen mit einem niedrigeren Rechnungszins.

Die Parteien streiten daneben über die Wirksamkeit diverser Klauseln in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen, Produktinformationsblättern und Versicherungsinformationen, unter anderem über eine Regelung, nach der die Abschluss- und Verwaltungskosten über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren, jedoch nicht länger als bis zum Ende der vereinbarten Beitragszahlungsdauer verteilt werden, sowie über die Bestimmungen zum sog. Stornoabzug bei Beitragsfreistellung und Kündigung.

Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte unter anderem zur Unterlassung der Verwendung von Teilen der Klauseln in den Versicherungsbedingungen zum Stornoabzug bei Beitragsfreistellung und Kündigung verurteilt. Die von der Beklagten praktizierte Beteiligung der Versicherungsverträge unterschiedlicher Tarifgenerationen an den Überschüssen hat es hingegen als wirksam angesehen und die Klage insoweit abgewiesen. Das Berufungsgericht hat das landgerichtliche Urteil zum Teil abgeändert und die Beklagte zur Unterlassung der Verwendung weiterer Teilklauseln in den von ihr verwendeten Versicherungsbedingungen, Produktinformationsblättern und Versicherungsinformationen verurteilt; die weitergehenden Rechtsmittel der Parteien sind erfolglos geblieben. Dagegen wenden sich beide Parteien mit ihren Rechtsmitteln, mit denen sie - soweit zu ihrem Nachteil entschieden worden ist - ihre jeweiligen Begehren weiterverfolgen.

Vorinstanzen:
Landgericht Stuttgart - Urteil vom 26. März 2020 - 11 O 214/18
Oberlandesgericht Stuttgart - Urteil vom 3. Februar 2022 - 2 U 117/20

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

Versicherungsvertragsgesetz (VVG)

§ 153 Überschussbeteiligung

(1) Dem Versicherungsnehmer steht eine Beteiligung an dem Überschuss und an den Bewertungsreserven (Überschussbeteiligung) zu, es sei denn, die Überschussbeteiligung ist durch ausdrückliche Vereinbarung ausgeschlossen; …

(2) 1Der Versicherer hat die Beteiligung an dem Überschuss nach einem verursachungsorientierten Verfahren durchzuführen; andere vergleichbare angemessene Verteilungsgrundsätze können vereinbart werden. …


§ 169 Rückkaufswert


(3) 1Der Rückkaufswert ist das nach anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik mit den Rechnungsgrundlagen der Prämienkalkulation zum Schluss der laufenden Versicherungsperiode berechnete Deckungskapital der Versicherung, bei einer Kündigung des Versicherungsverhältnisses jedoch mindestens der Betrag des Deckungskapitals, das sich bei gleichmäßiger Verteilung der angesetzten Abschluss- und Vertriebskosten auf die ersten fünf Vertragsjahre ergibt; die aufsichtsrechtlichen Regelugen über Höchstzillmersätze bleiben unberührt. …


(5) 1Der Versicherer ist zu einem Abzug von dem nach Absatz 3 oder 4 berechneten Betrag nur berechtigt, wenn er vereinbart, beziffert und angemessen ist. 2Die Vereinbarung eines Abzugs für noch nicht getilgte Abschluss- und Vertriebskosten ist unwirksam.


Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)

§ 138 Prämienkalkulation in der Lebensversicherung; Gleichbehandlung


(2) Bei gleichen Voraussetzungen dürfen Prämien und Leistungen nur nach gleichen Grundsätzen bemessen werden.

Mindestzuführungsverordnung (MindZV)
(in der Fassung vom 19. Juli 2017, gültig bis 16. Juli 2020)

§ 6 Kapitalanlageergebnis

(1) 1Die Mindestzuführung zur Rückstellung für Beitragsrückerstattung in Abhängigkeit von den Kapitalerträgen für die überschussberechtigten Versicherungsverträge beträgt 90 Prozent der nach § 3 Absatz 1 anzurechnenden Kapitalerträge abzüglich der rechnungsmäßigen Zinsen ohne die anteilig auf die überschussberechtigten Versicherungsverträge entfallenden Zinsen auf die Pensionsrückstellungen …

Karlsruhe, den 11. Juni 2024

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe

Dienstag, 4. Juni 2024

Ekosem-Agrar AG: Anleihegläubiger beschließen Restrukturierung der Unternehmensanleihen

- Anleihegläubiger stimmen mit deutlicher Mehrheit für Restrukturierungsvorschläge

- Restrukturierung umfasst im Wesentlichen den Verkauf und die Übertragung der Anleihen zu einem Preis von 300,00 Euro je Schuldverschreibung

- Keine Widersprüche zu Protokoll und somit keine Anfechtungsklagen gegen die Beschlüsse zu erwarten

Walldorf, 4. Juni 2024 – Die Anleihegläubiger der Ekosem-Agrar AG, deutsche Holdinggesellschaft der auf Milchproduktion in Russland ausgerichteten Unternehmensgruppe EkoNiva, haben auf den zweiten Anleihegläubigerversammlungen am 3. und 4. Juni 2024 mit einer deutlichen Mehrheit von 90,88 % bzw. 92,49 % für die Restrukturierung der Ekosem-Agrar Anleihe 2012/2027 (ISIN: DE000A1R0RZ5) und der Ekosem-Agrar Anleihe 2019/2029 (ISIN: DE000A2YNR08) gestimmt. Dabei wurde auch das jeweils zur Beschlussfähigkeit notwendige Quorum von 25 % der ausstehenden Schuldverschreibungen deutlich übertroffen. Zur Abstimmung standen im Wesentlichen der Verkauf und die Übertragung der ausstehenden Schuldverschreibungen inkl. aufgelaufener Zinsen zu einem Kaufpreis in Höhe von 300,00 Euro je Schuldverschreibung mit einem Nennwert von 1.000,00 Euro.

Die Restrukturierung der Unternehmensanleihen war erforderlich vor dem Hintergrund der geplanten Zusammenführung der deutschen Holdinggesellschaft mit dem ausschließlich in Russland angesiedelten operativen Geschäft. Dieser Schritt wurde beschlossen, nachdem in den vergangenen Monaten sowohl in Deutschland als auch in Russland zunehmend Maßnahmen angekündigt und getroffen wurden, die die Aufrechterhaltung der Deutsch-Russischen gesellschaftsrechtlichen Konstruktion erschwerten bzw. unmöglich machten. Dies betrifft vor allem steuerliche Änderungen in Deutschland ebenso wie drohende wirtschaftliche Risiken in Russland.

Die von deutschen Gesellschaften gehaltenen Anteile an den russischen Zwischenholdings sollen im nächsten Schritt an eine russische Erwerbergesellschaft verkauft werden, deren Anteile im Wesentlichen von den derzeitigen Aktionären der Ekosem-Agrar AG gehalten werden. Für diesen Fall beschlossen die Anleihegläubiger auch einen Verzicht auf die Rückzahlungsoption im Falle eines Kontrollwechsels.

Stefan Dürr, Vorstand der Ekosem-Agrar AG: „Wir sind der Ansicht, dass die nun beschlossene Restrukturierung trotz ihrer Herausforderungen eine unter den aktuellen Umständen sinnvolle Lösung für die Anleihegläubiger ist. Die Zusammenführung der Holding mit den operativen Tochtergesellschaften in Russland ist der richtige Schritt, um das operative Geschäft zu sichern und den Fortbestand der Gruppe zu gewährleisten. Wir freuen uns, dass wir gemeinsam mit unseren Anleihegläubigern eine Lösung in dieser schwierigen Situation gefunden haben.“

Die Umsetzung und der Zeitplan für den Verkauf und die Übertragung der Anleihen ist abhängig von mehreren Faktoren. Da keine Widersprüche zu Protokoll eingelegt wurden, sind keine Anfechtungsklagen zu erwarten. Allerdings müssen in Russland erst noch die notwendigen Vereinbarungen getroffen werden, um die Übertragung der Unternehmensanteile sicherzustellen. Im Vordergrund stehen hier Gespräche mit den finanzierenden Banken und Regierungsbehörden.